10. Februar 2014 · Kommentieren · Kategorien: Chaos

Wenn Sie sich Ihren Schreibtisch im Büro ansehen, was sehen Sie dann? Ordnung und Sauberkeit oder Durcheinander und Wirrwarr? Sollten Sie zur ersten Gruppe gehören, so gratulieren ich Ihnen dazu. Sie gelten gemeinhin als strukturiert, zuverlässig und effizient. Allerdings sind Sie aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten eher langweilig. Sollten Sie jedoch zur zweiten Gruppe gehören, so wollen wir uns Ihr Chaos einmal näher ansehen. Die Situation auf Ihrem Schreibtisch ist nämlich sehr ähnlich zu vielen Phänomenen in der Welt außerhalb ihrer vier Bürowände.

Der Bürohengst als gläsernes Individuum

Lange Zeit galt die Annahme, dass sich Prozesse, die vollständig durch Gleichungen zu beschreiben sind und keinen zufälligen Anteil haben, exakt berechnen und vorhersagen lassen. Diese vorherbestimmten Systeme nennt man deterministisch. Nehmen wir also einmal an, dass Sie als Mensch, der einen Schreibtisch in chaotischer Weise benutzt, vollständig durch irgendwelche Gleichungen zu beschreiben wären. Die Gleichungen würden zum Beispiel sagen, dass wenn es morgens regnet, Sie Ihre Mails ausdrucken und die gesammelten Zettel ungelesen auf die rechte Seite Ihres Schreibtisches legen. Bei Sonnenschein, so sagt uns die hypothetische Gleichung, drucken Sie nichts aus, sondern arbeiten Ihre Mails schnell direkt im Computer ab. Kennen wir nun alle Parameter, die in den Gleichungen vorkommen, so könnten wir Ihr Verhalten und die Ablagesystematik auf Ihrem Schreibtisch genau berechnen und voraussagen. Mehr noch, es wäre sogar unerheblich, ob es nur regnet oder sogar aus allen Wolken schüttet. Sie denken sich schließlich, dass Sie sowieso nass werden. Jeder Blick in den Himmel würde uns also genau sagen, ob wir mittags auf Ihrem Schreibtisch einen Zettelstapel fänden oder nicht.

Kausalität und dämonisches Wissen

Um uns dem Begriff des Chaos weiter zu nähern sind die gerade beschriebene Berechenbarkeit einerseits und die genaue Beziehung zwischen Ursache und Wirkung andererseits wichtig. In der wissenschaftlichen Beschreibung von Ursache und Wirkung wird der Begriff Kausalität verwendet. Man spricht von starker Kausalität, wenn ähnliche Ursachen auch ähnliche Wirkungen haben. In unserem Beispiel war generell Niederschlag für den Papierstapel verantwortlich. Ein wenig Regen oder Schauer sind ähnliche Ursachen für ähnlich aussehende Papierstapel am Mittag.

Der zweite Aspekt betrifft die exakte Berechenbarkeit. Um alle Folgen einer Ausgangssituation berechnen zu können, wäre es notwendig, diesen Ausgangspunkt in allen Einzelheiten zu kennen. Wir müssten also Sie, wenn Sie morgens aufgestanden sind, genau vermessen; die Position von jedem Atom Ihres Körpers, die exakte elektrische Aktivität auf den neuronalen Bahnen Ihres Gehirns, die genaue meteorologische Situation usw. Mit diesem vollständigen Wissen über den Ausgangszustand könnte eine Maschine oder ein Wesen mit hoher Rechenleistung und allen notwendigen Gleichungen Ihren Tagesablauf genau prognostizieren. Dieses Bild eines allwissendes Wesens, dass alle folgenden Ereignisse berechnen kann, hat Pierre-Simon Laplace (1749-1827) durch einen Ausspruch geprägt. Nach ihm wurde dieses Wesen als Laplacescher Dämon bezeichnet. Er ist Ausdruck eines allumfassenden Determinismus und damit auch einer vollständig vorherbestimmten Existenz.

Was bedeutet das alles nun für Ihren Schreibtisch? Ist es schon vollkommen klar, wie er morgen, nächste Woche oder in fünf Jahren aussehen wird? Halten wir alle keine Neuigkeiten für den Dämon bereit?

Das Chaos schlägt zu

Bereits zu Beginn hatten wir festgehalten, dass es viele Ähnlichkeiten zur Schreibtischsituation in ganz anderen Bereichen gibt. Es ist in der Tat so, dass bereits sehr einfache Gleichungen ohne einen Einfluss von Zufall sehr schwierige Zahlenreihen produzieren können. Diese Gleichungen sind zwar deterministisch aber trotzdem sind bei der Betrachtung ihrer Ergebnisse keine langfristigen Vorhersagen zu treffen [1]. Beispiele dafür sind einfache Wetter- oder Demografiemodelle. Anschaulich eindrucksvoll sind auch chaotische Pendel [2].

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Bei diesem Systemen spricht man von deterministischem Chaos. Hier gilt die starke Kausalität nicht mehr [3] und auch der Laplacesche Dämon wird infrage gestellt [4]. Herrscht auf Ihrem Schreibtisch deterministisches Chaos, so ist es sehr wohl von Bedeutung, ob es nur regnet oder ob Sie durch einen Wolkenbruch zur Arbeit gekommen sind (Verletzung der starken Kausalität). Es ist sogar wichtig, wann Sie von wie vielen Tropfen wo genau auf den Kopf getroffen wurden. Das deterministische Chaos reagiert sehr empfindlich und mit großen Ergebnisabweichungen auf derartig kleine Änderungen der Anfangsbedingungen. Und auch der Dämon in Ihrem Büro wäre schlicht überfordert. Er könnte aufgrund der enorm hohen Anzahl an Gleichungen und Parametern nicht die Rechenleistung aufbringen, die für die exakte Vorhersage notwendig ist. Die Anforderungen des Chaos sind einfach zu hoch, um sie bis zum Ende aller Tage bewältigen zu können.

Zufall vs. Chaos

Dass eine zeitliche Entwicklung nicht zu prognostizieren ist, heißt also nicht zwangsläufig, dass sie zufällig/stochastisch ist. Vielmehr könnte deterministisches Chaos vorliegen. Die Forschungen zu physikalischen und biologischen Systemen, deren Verhalten deterministisches Chaos zeigt, haben auch dazu geführt, dass Kapitalmärkte als möglicherweise chaotisch und nicht zufällig betrachtet wurden. Ein Ziel dieses Ansatzes wäre es dann, die verschiedenen Parameter, die den Wertpapierhandel beeinflussen, aufzulösen. Damit wäre es theoretisch möglich einen Attraktor (siehe Blog-Info) zu rekonstruieren. Dies ist aber ein höchst schwieriges (und vielleicht/wahrscheinlich sogar unmögliches) Unterfangen [5].

Es bleibt damit unklar, ob der Aktienmarkt ein chaotisches Phänomen ist. Und wahrscheinlich gilt diese Feststellung genauso für Ihren Schreibtisch, oder?

Referenzen

[1] Günter Grosche, Viktor Ziegler, Eberhard Zeidler, Dorothea Ziegler (Hrsg.), 2003: Teubner-Taschenbuch der Mathematik, Teil II. B. G. Teubner, Wiesbaden, S. 499.

[2] silbermondmuc: Chaospendel. URL: https://www.youtube.com/watch?v=TKXVl-W6HGc (30.12.2013)

[3] Klaus Lehnertz: Medizinische Physik, Physikalische Grundlagen der Analyse biomedizinischer Signale. URL: http://epileptologie-bonn.de/cms/upload/homepage/lehnertz/intro.pdf, S. 22 ff. (30.12.2013)

[4] John Argyris, Gunter Faust, Maria Haase, Rudolf Friedrich, 2010: Die Erforschung des Chaos. Springer, Berlin, Heidelberg, 2. Auflage, S. 22 ff.

[5] Rosario N. Mantegna, H. Eugene Stanley, 2000: An Introduction to Econophysics. Cambridge University Press, Cambridge (UK), S. 4 f.

 

Über den Autor: Dennis Glüsenkamp

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